Die größte
Gruppenarbeit der Welt

Operation am offenen Text

Gerunzelte Augenbrauen bei jeder Wortmeldung. Nervöse Stirnfalten. Manchmal bebende Nasenflügel. Die Delegierten ringen am dritten Tag des Gipfels so sehr um jedes Wort wie seit Jahren nicht. Schon jetzt droht ein Klimaabkommen für immer zu scheitern.

Die Delegierte aus St. Lucia meldet sich. Sie hat die weiße Plastiktafel mit den schwarzen Buchstaben des kleinen karibischen Inselstaats senkrecht gestellt. So bittet sie um das Wort. Sie spricht höflich, aber bestimmt. Warum in diesem Textabschnitt nichts über mögliche 1,5-Grad-Szenarien steht, möchte sie wissen. Immerhin gebe es doch genügend wissenschaftlich fundierte Grundlage dafür. „St. Lucia und viele andere Inselstaaten sind enttäuscht“, sagt sie. Der Vorsitzende löscht die eckige Klammer [many] aus dem Entwurfstext. Aus „vielen“ Entwicklungsländern, die sich um die Anpassung an den Klimawandel sorgen, werden damit „Entwicklungsländer“.

Die anderen Delegierten sehen ihn dabei kaum an. Sie starren auf einen riesigen Bildschirm in der Mitte des Raumes, auf dem ein schmaler roter Cursor hin und her springt, den der Vorsitzende von seinem Platz aus unter Kontrolle hat. Akribisch bildet er aus den Anmerkungen der Delegierten Textbausteine. Viele setzt er in neue Klammern. Vor der Tür hängen Beobachter, NGO-Mitarbeiter und weitere Delegierte wie beim Public Viewing an einem Bildschirm. Die Textarbeit wird in Bild und Ton übertragen, damit alle mitbekommen, wie die Verhandlungen vorangehen. Hochkonzentrierte Gesichter drinnen wie draußen.

Die größte Gruppenarbeit der Welt

Die Anspannung ist berechtigt. Es ist die wichtigste Arbeit auf dem Klimagipfel und schon am dritten Tag droht sie zu scheitern. Denn der Vorsitzende fügt Klammern ein in einen Text, aus dem bis Samstag mehrere hundert Klammern verschwinden müssen. Das Dokument ist der Entwurf für ein Klimaabkommen, das auf das Kyoto-Protokoll folgen soll, das 2020 ausläuft. Ein Pariser Abkommen. Werden die Klammern bis zum Wochenende nicht in einem Maße reduziert, dass aus dem Entwurf ein Text wird, den die Minister zu Ende verhandeln können, könnte der ganze Klimagipfel scheitern.

Vertreter aus 195 Staaten, die gemeinsam an einem großen Textdokument sitzen und um jedes Wort und jede Formulierung feilschen: Im Fachjargon heißt das „ADP-Arbeitsgruppe“ oder auch „Ad Hoc Working Group on the Durban Platform for Enhanced Action“. Sie ist zwar nur ein Gremium von mehreren, die sich auf dem Gipfel treffen. Daneben gibt es etwa eines zum Kyoto-Protokoll, dessen Mitgliedsstaaten in Paris ebenfalls zusammenkommen. Aber hier steht am meisten auf dem Spiel. Denn hier geht es um den Vertrag, der am Ende des Gipfels beschlossen werden soll.

Der Unterschied zwischen "soll" und "sollte"

Bevor die Verhandlungen in Paris begonnen haben, gab es im Vertragsentwurf rund 1500 dieser eckigen Klammern. Jede eckige Klammer stellt ihren Inhalt zur Diskussion. Entscheiden sich die Delegierten für ein Wort, hat das unter Umständen weitreichende Folgen. Die Wahl zwischen „shall“ (sollen) und „should“ (sollte) kann darüber entscheiden, wie bindend ein Satz ist. So heißt es beispielsweise in Artikel 3, der die Minderung der Emissionen regeln soll, dass die Klimaschutzziele „[shall][should][other] be progressively more ambitious over time.“

Wenn die freiwilligen Reduktionsziele – im Vertrag werden sie NDMC („National Determined Mitigation Contributions“) oder NDMCC („National Determined Mitigation Contributions and Commitments“ genannt – im Lauf der Zeit immer ambitionierter werden „sollen“, bedeutet das im Diplomatensprech, dass die Länder um eine stetige Verbesserung ihres Angebots nicht herum kommen werden. Steht dort allerdings, die Ziele „sollten“ verbessert werden, ist das nicht mehr garantiert. Ein Konjunktiv, der über die Zukunft auf dem Planeten entscheiden kann.

Doch auch wenn die Delegierten eine Klammer herausverhandelt haben, bedeutet das noch nicht, dass der ganze Entwurf weniger Klammern enthält. Verhandeln bedeutet feilschen: Ist ein Delegierter bereit, im Namen seines Landes auf ein „soll“ an der einen Stelle zu verzichten, fordert er an anderer Stelle vielleicht ein „sollte“ in einer neuen Klammer.

Die entscheidenden 26 Stunden

Am dritten Tag stecken die Gespräche so sehr fest, dass einzelne Themenbereiche in Untergruppen delegiert werden, und dort wiederum jeweils einzelne Vertragsartikel in Untergruppen. Zeile für Zeile, Halbsatz für Halbsatz werden besprochen. Die französische Präsidentschaft hat auf die ernste Situation bereits reagiert: Die letzte Verhandlungsrunde soll am Freitag morgen um 10 Uhr beginnen und ohne Pause bis 12 Uhr am Samstag dauern. 26 Stunden. Wenn die Gruppe den fertigen Textentwurf an den Präsidenten der COP, den französischen Außenminister Laurent Fabius, übergibt, sollte es dann nur noch um die politischen Fragen gehen, die die Verhandler nicht klären können.

Zum Beitrag auf Tagesschau.de

Tina Friedrich
Fotos: Christian Frey

2 Kommentare zu
Operation am offenen Text
  • Klimaproblem beruht auf dem Profitstreben der aggresivsten Kreise des Monopolkapitals, dessen Motor die Kriegs- und Rüstungsindustrie ist!
    es muß das Verursacherprinzip von allen friedliebenden Menschen der Welt umgesetzt werden,
    d.h. dieser „Motor “ soll in allen Ländern der UNO dafür entsprechend Ihres Anteils bezahlen!
    Steht auf bevor es zu spät ist und laßt nicht nach!!!

  • Gunter Tschauder schreibt:

    Natürlich ist das Verursacherprinzip eine Selbstverständlichkeit.Vor allem Länder wie die USA, China aber auch und selbstverständlich Deutschland und die anderen europäischen Länder müssen endlich dafür gerade stehen und dafür sorgen, dass der Klimaschutz durchgesetzt wird. Durchgesetzt heißt für diese Länder natürlich, sie haben Jahrzehnte lang den ganzen Dreck in die Atmosphäre gepustet, jetzt sollen sie dafür sorgen, dass sie wieder rein wird. Aber zur gleichen Zeit machen sie zu Hause den gleichen Schamott. Wir an der deutsch-frenzösischen Grenze können ein Lind davon singen. Da gibt es die Chemieplattform Carling in der Nähe von St. Avold. Hier wird ein Chemiezeugs in die Luft gepustet, das jedem Klimaschutz Hohn spricht. Dazu werden noch die Menschen vergiftet. Die Politiker auf beiden Seiten der Grenze versuchen permanent die Geschichte zu verharmlosen und die Bürger zu unbedeutenden Trotteln herabzuwürdigen. Diesem Verein traue ich nicht mehr über den Weg.

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